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Warum die Flüchtlingskrise keine war. Oder: Wir dürfen reisen (mit interaktiver Grafik)

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„Je höher das BIP und also die wirtschaftliche Wertschöpfung pro Kopf in einem Land, desto freier können sich die aus diesem Land stammenden Köpfe und Körper in der Welt umherbewegen.“ (Stephan Lessenich)

In seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ macht es sich Stephan Lessenich in einem Kapitel zur Aufgabe, den Zusammenhang zwischen globaler Mobilität für bestimmte Staatsbürger mit der Wirtschaftsleistung des jeweiligen Landes aufzuzeigen. Er diagnostiziert, dass wir in einer Externalisierungsgesellschaft leben. Wir, das sind die Bewohnerinnen des „globalen Nordens“, der „entwickelten Länder“. Wir externalisieren Kosten aller Art und internalisieren den Wert aus menschlicher Arbeit und wertvollen Rohstoffen. Kurzum: Wir leben auf Kosten anderer. Dabei sind die Kosten vielfältig: Soziale und psychische Krisen aufgrund ausgebeuteter Arbeiterinnen, Umweltverschmutzung, ein riesiger Bedarf an landwirtschaftlicher Fläche, um unseren Hunger unsere Gier (z.B. nach Soja) zu stillen, etc.

 

Bleibt draußen, wir kommen zu euch!

Zu dieser Ausbeutung gehört auch ein einseitiges Mobilitätsregime: „Während die Bürgerinnen der reichen Nationen sich spontan auf den Weg machen können, um unbehelligt auf große Entdeckungsfahrt oder gewinnbringende Geschäftsreise zu gehen, sind die legalen Reisemöglichkeiten der Bürger vieler armer Staaten massiv eingeschränkt und stehen unter dem Vorbehalt umfangreicher, langwieriger und kostspieliger Prüfung.“ Während wir also die Welt bereisen dürfen – ohne Nachzudenken den All-inclusive Urlaub in Sri Lanka buchen, auf der Geschäftsreise die Vorarbeiter in der chinesischen Fabrik loben oder tadeln – denken wir nicht einmal daran, dass der Kellner in Sri Lanka und der Vorarbeiter in China nicht die gleiche, unkomplizierte Mobilität besitzen wie wir. Kurzum: Damit die Wertschöpfungskette, die vom globalen Süden in den globalen Norden verläuft, nicht abreißt, müssen wir schon die Freiheit haben an den Ursprung dieser Wertschöpfung zu reisen, damit dort auch alles weiter nach unseren Vorstellungen läuft. Und wir geben dort doch auch Geld aus, oder etwa nicht? Während der globale Norden also problemlos den globalen Süden besuchen darf, aus welchen Gründen auch immer, ist das umgekehrt nicht der Fall. Höchstens, wenn wir manche Arbeiten nicht auslagern können, wie etwa die Betreuung unserer Alten. Hier werden die Grenzen durchlässiger und Frauen dürfen zu uns kommen – wobei sie oft ihre eigenen Familien verlassen müssen – um die Pflege zu übernehmen für die wir zu beschäftigt sind.


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Es gibt noch eine weitere frappierende Ungleichheit zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, der aufgrund (oder mit?) der hiesigen Debatte allerdings verdrängt wird. Seit Jahren (!) wird über die Belastungen für unsere Gesellschaft gesprochen, die flüchtende Menschen mit sich bringen. Die Medien sind voll mit all den unerträglichen Diskussionen, die wir schon zu gewohnt sind: Integration. Kriminalität. Soziale Zuwendungen für Geflüchtete. Rechte, populistische Parteien. Burkaverbot. „Absaufen!“. NGOs, die als Schlepper bezeichnet werden. Die von Anfang an nur von seltsamen „Gutmenschen“ kritisierte Dehumanisierung der Flüchtenden, die tagtäglich stattfindet. Zuletzt die Abschiebung von Lehrlingen. Die Verweigerung Schiffe anlegen zu lassen. Diese Aufzählung könnte noch lange so weitergehen, aber wozu? Wen interessiert es wirklich? Dabei ist die Zahl der Flüchtenden, die es zu uns schaffen, im Vergleich zu anderen, ärmeren Ländern verschwindend gering. Gleichzeitig sind diese Menschen aber ein Zeichen dafür, dass die Externalisierungsgesellschaft an ihre Grenzen stößt.

 

Die Externalisierung kommt nach Hause

Die seit langem ausgelagerten Kosten schlagen in Form von Menschen, die nichts mehr zu Hause hält – auch weil wir ihre Heimat quasi unbewohnbar gemacht haben – auf uns zurück. Die Mutigsten und Glücklichsten hält kein unausgestelltes Visum auf, lächerlich im Vergleich zur Überwindung des Mittelmeeres. Daher könnte aber auch die überspannte und emotionale Reaktion vieler Bewohner des globalen Nordens kommen. Wir ahnen, dass es so nicht weitergeht. Die Ausgeschlossenen und Ausgebeuteten beginnen dorthin zu gehen, wo die erlittenen Kosten ihre Früchte tragen. Und wieso auch nicht? Welches stichhaltige Argument kann man tatsächlich gegen diese Zuwanderung vorbringen? „Mir san mir“?

 

Trotzdem, noch läuft’s für den globalen Norden

Und trotzdem, wie gesagt, sind es vergleichsweise wenige Flüchtende die es zu uns schaffen. Den Zusammenhang von Visumsfreiheit, Wirtschaftsleistung und Geflüchteten habe ich versucht in der folgenden Grafik darzustellen:

Die horizontale x-Achse zeigt die Anzahl an Ländern, die von den jeweiligen Staatsbürgern ohne Visum besucht werden können. Auf der vertikalen y-Achse ist das BIP pro Kopf nach dem Internationalen Dollar aufgetragen (auch PPP genannt). Der Internationale Dollar stellt die Vergleichbarkeit zwischen Ländern sicher, da er danach berechnet wird, wie viele Güter man tatsächlich mit dem vorhanden Geld kaufen kann. Wir können einen klaren Zusammenhang zwischen Visafreiheit und Wirtschaftsleistung sehen. Je mehr Länder ohne Visum besucht werden können, desto höher ist die Wirtschaftsleistung pro Kopf. Oder umgekehrt. Kausalität ist hier nur schwer zu argumentieren. Wahrscheinlich ist der Zusammenhang ein gegenseitiger. Die Kurve zeigt diesen Zusammenhang mit Hilfe einer quadratischen Regression.

Außerdem sind sowohl der Median in Bezug auf die Visafreiheit (48) und der Median des BIP pro Kopfs (12.937,75 $) eingezeichnet. Das bedeutet, dass die Bürger von 50% der Staaten weniger als 48 Länder visafrei bereisen können und die anderen 50% mehr als 48. Diese Logik gilt auch für den Median des BIPs pro Kopf.

Die Größe der Kreise bezieht sich auf die Zahl der Geflüchteten pro Land in Bezug auf die Wirtschaftsleistung. So befanden sich im Jahr 2017 zwar mehr Geflüchtete im Libanon als in der Demokratischen Republik Kongo, allerdings ist der Kreis, der den Kongo repräsentiert größer, da pro Dollar und Einwohner mehr Geflüchtete versorgt werden müssen. Außerdem wird farblich zwischen OECD Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern unterschieden. Wobei die OECD Länder grob den globalen Norden repräsentieren. Mit Hilfe der Search Box kann schließlich nach einzelnen Ländern gesucht werden.

Der Zusammenhang ist klar erkennbar und einfach nachzuvollziehen. 72 der 190 Länder liegen sowohl unter dem Median für das BIP pro Kopf als auch unter dem Median in Bezug auf die Visafreiheit. Während in diesen Ländern 10,2 Millionen Geflüchtete versorgt werden müssen, sind es in den restlichen 118 Ländern „nur“ 6,5 Millionen. Das bedeutet, dass die Länder, die unter dem Durchschnitt in Punkto globaler Mobilität und unter dem Durchschnitt in Bezug auf die Wirtschaftsleistung liegen, eine um das 1,5-fache höhere Belastung tragen.

 

Die Komplexität der Globalisierung ist ihr bester Freund

Diese Perspektive scheint aber in den hiesigen Debatten keine Rolle zu spielen. Viel zu sehr sind wir damit beschäftigt zu erklären, wieso wir uns um diese Menschen ganz einfach nicht kümmern können. Rechte Politiker und Politikerinnen gehen sogar soweit, Sammelzentren für Geflüchtete außerhalb Europas errichten zu wollen. Sie verkaufen das als ein humanes Projekt, da eine nachhaltige Lösung ja nur sein kann, die Probleme in den Herkunftsländern zu lösen. Die Realität sieht aber anders aus. Die Realität ist zum Beispiel, dass es mitten im 21. Jahrhundert Sklavenmärkte in Nordafrika gibt. Viele Probleme entstehen durch unsere Lebensweise. Das zu verstehen ist schwierig, da es abstrakt ist. Erst die Kumulation von Einzelhandlungen führt zu globalen Strukturen, die systematisch Kosten abwälzen und Gewinne einfahren. Die Globalisierung hat eine bis in letzte Details verbundene Welt hervorgebracht, die so komplex geworden ist, dass es schier unmöglich scheint, „richtige“ Entscheidungen zu treffen. Wer weiß zum Beispiel schon, dass es eine weltweite Knappheit an Sand gibt? Und wer weiß schon, dass Zahnpasta Sand enthält? Oder das Züge mit Hilfe von Sand bremsen? Es ist unübersichtlich und deprimierend, wenn man mal beginnt darüber nachzudenken. Und was machen wir, wenn wir deprimiert sind? Wieso nicht einen Kurzurlaub buchen, um den Kopf frei zu bekommen? Ich kann in drei Stunden an einem griechischen Strand sein? Großartig!

Ich habe keine Lösung. Intelligentere Menschen als ich haben keine Lösung. Dieser Beitrag sollte nur dazu dienen, einen kleinen Fakt unserer globalisierten Welt aufzuzeigen. Vielleicht sollten wir beim nächsten Einkauf oder der nächsten Aussage eines Politikers einfach kurz innehalten. Und vielleicht sollten wir im nächsten Urlaub etwas mehr Trinkgeld geben. Und warum nicht an einen Kärntner See fahren?


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Quellen:

Daten zur Visumsfreiheit: https://github.com/ilyankou/passport-index-dataset
PPP per capita: https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.PP.CD
Daten zu Geflüchteten: http://popstats.unhcr.org/en/time_series
Buch: Stephan Lessenich – Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis.

Info:
PPP per capita stand nicht zur Verfügung für folgende Länder: Andorra, Cuba, Liechtenstein, Monaco, Somalia, Syrian Arab Republic
PPP per capita stand für folgende Länder nur für folgende Jahre (in Klammern) zur Verfügung: Djibouti (2011), Eritrea (2011), South Sudan (2016), Venezuela, RB (2014), Yemen, Rep. (2016)
Für folgende Länder stehen keine Zahlen in Bezug auf Geflüchtete zur Verfügung: Belize, Bhutan, Brunei Darussalam, Cabo Verde, Comoros, Dominica, Equatorial Guinea, Eswatini, Hong Kong, Kiribati, Kosovo, Lao People’s Democratic Republic, Macao, Maldives, Marshall Islands, Micronesia (Federated States of), Myanmar, Palau, Palestine, State of, Saint Kitts and Nevis, Saint Vincent and the Grenadines, San Marino, Sao Tome and Principe, Seychelles, Singapore, Solomon Islands, Timor-Leste, Tonga, Tuvalu, Vanuatu, Viet Nam

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